http://www.youtube.com/watch?v=dnqgVTq5a-U&feature=youtu.be
Vom „Tourette-Syndrom“ haben Sie vielleicht schon einmal gehört – oder in US-amerikanischen Fernsehserien Schauspieler erlebt, die motorische und verbale „Tics“ so überzeugend spielen, dass man ihre Figuren nicht vergisst. Aber Tourette ist in der Wirklichkeit nicht ganz so unterhaltsam, sondern für die Betroffenen häufig ein ernstes, insbesondere soziales Problem. An der Lübecker Universität gibt es seit Kurzem eine Arbeitsgruppe, die sich dieser Krankheit in besonderer Weise annimmt.
Das Tourette-Syndrom ist nach dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette (1857 – 1904) benannt. Es handelt sich um eine neuropsychiatrische Störung, die sich in „Tics“ ausdrückt, wobei darunter unkontrollierbares Impulsverhalten in Bewegungen oder Sprache verstanden wird. Sozial besonders auffällig wird das Syndrom zum Beispiel, wenn die Betroffenen in der Öffentlichkeit unflätige Wörter wiederholen, offenbar ohne damit etwas Bestimmtes kommunizieren zu wollen.
„Vieles, was für die von solchen Impulsüberschüssen im Gehirn Betroffenen im praktischen Leben problematisch wird, ist vor allem Feedback-Folge einer gesellschaftlichen Stigmatisierung von Andersheit, an der die Menschen mehr leiden als an ihren einzelnen Tics“, erklärt Professor Alexander Münchau, Leiter der Arbeitsgruppe Bewegungsstörungen und Neuropsychiatrie bei Kindern und Erwachsenen am Institut für Neurogenetik der Uni-Klinik. Ungefähr ein Prozent der (deutschen) Gesamtbevölkerung gelten als betroffen von diesem Syndrom, bei jüngeren Kindern sind es bis zu 20 Prozent. „Wenn der Erwachsene seine aus der Kindheit oder Jugend stammenden Tics nicht ablegt, können wir von einer Reifungs- oder Entwicklungsstörung des Gehirns sprechen“, erläutert Münchau. Auf diese Interpretation der Tourette-Krankheit deuteten auch die vorläufigen Ergebnisse der Lübecker Arbeitsgruppe hin, die aber in umfangreichen Studien über lange Zeiträume erst noch bestätigt werden müssten. „Es wäre schön, wenn wir in einigen Jahren eine Art Standarderklärungsmodell für die Krankheit finden könnten und damit die Biografien vieler Betroffener an verschiedenen Punkten – als Kinder, als Jugendliche, als Erwachsene – auf einen guten Weg bringen könnten, sei es mit Beratung, mit technischer Unterstützung, mit Psychotherapie oder bei stärkeren Problemen auch mit Medikamenten“, beschreibt der Neurologe seine Hoffnungen. Sein Leitbild ist dabei der „denkende Arzt“, wie er im Rückgriff auf den Philosophen Martin Heidegger (1889 – 1976) den individuell-verstehenden und deutenden Partner-Arzt bezeichnet. Auf dieser Basis soll in den kommenden Jahren auch eine Aus- und Fortbildungsakademie für solche „denkenden“ Ärzte und Pflegekräfte weiterentwickelt werden.
Der Ansatz der Forscher ist multiperspektivisch und interdisziplinär: So werden die Patienten unter anderem mit bildgebenden Verfahren untersucht, aber auch mit der Technologie der magnetischen Gehirnstimulation („TMS“ Transkranielle Magnetstimulation) und mit verschiedenen Techniken der psychologischen Verhaltensbeobachtung. Eine vielversprechende Technologie, die aktuell entwickelt wird, ist die datenbankgestützte Mustererkennung. Hier geht es darum, eine Software zu erarbeiten, die in der Lage sein soll, Bewegungen an verschiedenen Körperregionen in der Zeit zu erfassen und mit Bilddaten aus anderen Beobachtungformen (zum Beispiel Ganganalyse, Ultraschall, Infrarot) sinnvoll zu verbinden, sodass ein realistisches Bild des Symptomgeschehens gewonnen werden kann. Und um speziell die Qualität der Daten aus der magnetischen Hirnstimulation zu verbessern, ist für das laufende Jahr eine Kooperation mit dem Institut für Robotik der Universität geplant: Es soll versucht werden, die Stimulationsgeräte deutlich zu miniaturisieren, um dadurch kleinere Gehirnregionen präziser anregen zu können und dabei störende Nebeneffekte des Messens möglichst zu eliminieren. Hierzu sollen neue, besonders präzise fokussierende Magnetspulen in rascher Geschwindigkeit auf dem Kopf hin und her bewegt werden, um mit hoher zeitlicher Auflösung mehrfach hintereinander über verschiedenen Hirnregionen Magnetpulse setzen zu können, die zu klar erkennbaren Erregungswellen im Gehirn führen. Von diesem Vorgehen erwarten die Forscher ein vertieftes Verständnis des Zusammenspiels verschiedener Hirnzentren, die für die Bewegungskontrolle von Bedeutung sind. Diese neurophysiologischen Ideen zu realisieren und dann womöglich in neue Therapien und Technologieanwendungen sowie Medizinprodukte zu überführen, erfordert eine enge Kooperation zwischen klinischer Forschung und Medizintechnik, wie sie auf dem Lübecker BioMedTec-Campus besonders gepflegt wird.
(rwe)
Anmerkung:
Auf dem Bild oben sieht man, wie Dr. Tobias Bäumer bei einer Probandin mittels der TMS Messungen der Hirnerregbarkeit vornimmt: Dabei wird die Magnetspule auf den Kopf des Probanden gehalten bzw. über einen Rahmen fixiert. Durch eine Entladung in der Spule wird unter der Spule ein Magnetfeld erzeugt, das dann im Gehirn wiederum zu einer umschriebenen Erregung von Nervenzellen führt. Es werden auch solche Nervenzellen, deren Ausläufer über Nervenbahnen zum Rückenmark ziehen, erregt, wo sie andere Nervenzellen erregen, die über motorische Nervenstränge zu den Muskeln führen. Dort kommt es dann zu sichtbaren oder zu nicht sichtbaren, aber aufzeichenbaren „Mini-Zuckungen“, die den Erregungszustand des Gehirn widerspiegeln.